+49 221 33 77 23-0
Aktuelles Aktuelles Allgemeines   

Freiheitsstrafen bei Spenderlistenmanipulationen?

   
3. April 2023

In seinem Aufsehen erregenden Transplantationsurteil vom 28.6.2017 (5 StR 20/16) bestätigte der 5. Strafsenat des BGH den Freispruch eines Arztes, der 2010 und 2011 zur Bevorzugung seiner Patienten Falschangaben gegenüber Eurotransplant gemacht hatte. Angeklagt war der Arzt wegen versuchter Tötung in Bezug auf die auf der Warteliste stehenden und durch die Manipulationen überholten Patienten. Nach dem 5. Strafsenat fehlte es dem Arzt am Vorsatz (Tatentschluss) zur (versuchten) Tötung: Objektiv sei maßgeblich, ob ein aufgrund der Falschangaben „überholter“ und dann verstorbener Patient mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt hätte, wenn ihm das konkrete Organ entsprechend der ihm eigentlich gebührenden Rangstellung angeboten worden wäre (Quasi-Kausalität). Subjektiv hätte dem Arzt nach der Ansicht des 5 Strafsenats daher bewusst sein müssen, dass das Leben des auf der „überholten“ Patienten ohne die Manipulation der Liste mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden wären. Dies war allerdings nicht der Fall, da der Arzt um das hohe Risiko (5-10%) wusste, dass Patienten in oder unmittelbar nach der Transplantation versterben.

Würde der 5. Strafsenat auch heute noch so entscheiden? Wohl nicht:

Der 4. Strafsenat des BGH musste sich in einem Fall außerhalb des Medizinstrafrechts ebenfalls mit den Anforderungen auseinandersetzen, die an den Tatentschlusses hinsichtlich der für Unterlassungsdelikte erforderlichen Quasi-Kausalität zu stellen sind. Nach Dafürhalten des 4. Strafsenats muss der Täter es nur für möglich halten, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges durch ihm mögliche und zumutbare Maßnahmen zu verhindern (sog. bedingter Vorsatz bzw. dolus eventualis). Einer Vorstellung, der Erfolgseintritt werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert, bedarf es gerade nicht. 

Aufgrund der hierin liegenden Divergenz zum Transplantationsurteil von 2017 fragte der 4. Strafsenat beim 5. Strafsenat an, ob dieser an seiner Entscheidung festhalte (Beschl. v. 9.3.2022 – 4 StR 200/21). Hierraufhin gab der 5. Strafsenat seine seinerzeitige Rechtsauffassung auf und schloss sich derjenigen des 4. Strafsenats an (Beschl. v. 27.9.2022 – 5 Ars 34/22).

Es liegt damit nahe, dass Spenderlistenmanipulationen künftig nicht nur nach dem Straftatbestand des § 19 Abs. 2a TPG (Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren), der zum 1.8.2013 als Reaktion auf den Göttinger Organspendeskandal eingeführt worden war, sondern als versuchter Totschlag (Freiheitsstrafe grds. nicht unter fünf Jahren) geahndet werden. Dies ließe voraussichtlich hohe Haftstrafen erwarten. 

Wie die vorstehend dargestellten Entscheidungen zeigen, unterliegt die Rechtsprechung der Strafgerichte einem ständigen – teils kurzfristigen – Wandel. Umso wichtiger ist es, die aktuellen Entwicklungen im Medizinstrafrecht im Blick zu behalten. Dabei stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.


Kontaktieren Sie uns:

Prof. Dr. Michael Tsambikakis Prof. Dr. Michael Tsambikakis  Daniela Etterer, MHMM Daniela Etterer MHMM Dr. Karolina Kessler Dr. Karolina Kessler Dr. Daphne Petry, LL.M. (Canterbury) Dr. Daphne Petry, LL.M. (Canterbury) Dr. Markus Gierok Dr. Markus Gierok  Britta Alexandra Michel Britta Alexandra Michel