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Dauer der Durchsicht

   
7. September 2025

Die vorläufige Durchsicht nach § 110 StPO ist ein notwendiges Instrument der Ermittlungsbehörden, um im Rahmen von Durchsuchungen beschlagnahmte Unterlagen oder Datenträger auf ihre Relevanz für das Strafverfahren zu überprüfen. Dabei ist eine zügige Auswertung geboten, damit der Betroffene schnellstmöglich wieder über diejenigen Unterlagen oder Geräte verfügen kann, die nicht für das Strafverfahren von Bedeutung sind. Die Dauer der Durchsicht hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab: dem Gewicht des Tatvorwurfs, dem Umfang und der Schwierigkeit der Auswertung, der Bedeutung der Unterlagen für den Betroffenen sowie insbesondere bei elektronischen Geräten von deren Wert, Alter und einem möglichen Wertverlust.

Eine Überlastung der Ermittlungsbehörden oder eine unzureichende Ausstattung kann die Verzögerung nicht rechtfertigen. Schon in der Vergangenheit haben zahlreiche Gerichte entschieden, dass die lange Aufbewahrung beschlagnahmter Unterlagen oder Computeranlagen ohne zeitnahe Durchsicht einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen darstellt. Dabei lässt sich zwar keine starre Frist festlegen, doch zeigt die Rechtsprechung, dass bereits Zeiträume von wenigen Monaten beanstandet wurden. Gleichzeitig ist eine Tendenz erkennbar, dass die Gerichte heute längere Zeiträume hinnehmen, bevor sie einen Verstoß gegen das Übermaßverbot annehmen.

Übersicht über die Rechtsprechung

Im Folgenden eine Übersicht über einschlägige Entscheidungen zur Dauer der Sicherstellung und Durchsicht:

• 2 Monate: LG Aachen, Beschluss vom 14.06.2000 - 65 Qs 60/00

• 3 Monate: LG Dresden, Beschluss vom 18.10.2002 – 5 Qs 82/2002

• 7 Monate: LG Köln, Beschluss vom 17.05.2002 – 109 Qs 219/02

• 8 Monate: LG Limburg, Beschluss vom 22.08.2005 – 5 Qs 96/05

• 9 Monate: LG Kiel, Beschluss vom 19.06.2003 – 32 Qs 72/03

• 1 Jahr: LG Mühlhausen, Beschluss vom 03.03.2003 – 6 Qs 56/03

• 1 Jahr: LG Bonn, Beschluss vom 30.09.2024 – 777 Js 219/23 SE

• 1 Jahr 2 Monate: LG Cottbus, Beschluss vom 10.04.2019 – 22 Qs 1/19

• 1 Jahr 5 Monate: AG Hamburg, Beschluss vom 30.03.2023 - 162 Gs 2237/21

• 2 Jahre 10 Monate: LG Gera, Beschluss vom 11.06.2025 – 1 Qs 187/25

• 2 Jahre 11 Monate: LG Hamburg, Beschluss vom 10.07.2024 – 630 Qs 8/24

• 4 Jahre 6 Monate: LG Hamburg, Beschluss vom 05.06.2025 – 616 Qs 14/25

• 4 Jahre 11 Monate: LG Stralsund, Beschluss vom 26.07.2022 – 26 Qs 45/21

• 5 Jahre: BVerfG, Beschluss vom 17.11.2022 - 2 BvR 827/21

Entscheidungsbegründung im Wortlaut

Die Rechtsprechung macht deutlich, dass bereits eine mehrmonatige Verzögerung als rechtswidrig angesehen werden kann. Einige exemplarische Entscheidungen sollen hier im Wortlaut vorgestellt werden:

  1. LG Aachen, Beschluss vom 14.06.2000 - 65 Qs 60/00:
    „Sind seit der Sicherstellung einer beruflich benötigten Computeranlage des Beschuldigten mehr als 2 Monate vergangen, ohne dass die Ermittlungsbehörden das beschlagnahmte Material ausgewertet oder zumindest zu Beweiszwecken Kopien der beschlagnahmten Datenträger angefertigt hätten, ist die Aufrechterhaltung der Beschlagnahme nicht mehr verhältnismäßig.“
  2. LG Dresden, Beschluss vom 18.10.2002 – 5 Qs 82/2002:
    „Die Durchsuchung steht jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer im Hinblick auf die nunmehrige Dauer der Durchsicht der Unterlagen von weit über 3 Monaten außer Verhältnis zum gegenständlichen Tatvorwurf [wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt] und der insoweit realistischen Strafandrohung.“
  3. LG Köln, Beschluss vom 17.05.2002 – 109 Qs 219/02:
    „Der Beschlagnahmebeschluss war aufzuheben, da ein weiteres Zurückhalten der sichergestellten Unterlagen der Beschwerdeführerin unverhältnismäßig ist. Bei den beschlagnahmten Schriftstücken handelt es sich um Geschäftsunterlagen, die für die Durchführung des Geschäftsbetriebes von Bedeutung sind. (…) Eine Durchsicht der beschlagnahmten Papiere gemäß § 110 StPO ist hinsichtlich der bei der Polizei verwahrten Unterlagen bisher lediglich im Umfang eines Viertels erfolgt. Angaben über den Umfang der Sichtung der Unterlagen bei der Staatsanwaltschaft liegen nicht vor. Wann eine abschließende Auswertung aller Unterlagen vorgenommen werden kann, wird nicht angegeben. Seit der Sicherstellung der Unterlagen sind mithin sieben Monate vergangen. Lediglich ein geringer Teil der Unterlagen wurde gesichtet. Ein Zeitpunkt für den Abschluss der Sichtung ist nicht erkennbar wäre. (…) Entscheidend ist vorliegend, dass aufgrund einer Überbelastung bei den auswertenden Behörden die Sichtung nachhaltig verzögert wurde. (…) Ein länger andauernder Engpass bei den staatlichen Organen kann jedoch nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin gehen.“
  4. LG Limburg, Beschluss vom 22.08.2005 – 5 Qs 96/05:
    „Die Durchsicht der beschlagnahmten Geräte ist indes acht Monate nach der Sicherstellung derselben noch nicht abgeschlossen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass dies nicht auf einem erheblichen Umfang des zu überprüfenden Materiales beruht. Vielmehr hat sich bereits der Beginn der Untersuchung durch den hohen Geschäftsandrang und eine damit einhergehende Überlastung der auswertenden Behörden verzögert. Ein solcher lang andauernder Engpass staatlicher Organe kann aber nicht zu Lasten des Beschuldigten einen unbegrenzt und wesentlich über einen Zeitraum von 6 Monaten hinwegdauernden Eingriff in dessen Eigentumsrechte rechtfertigen. Dies gilt vorliegend auch deshalb, weil sich der Tatverdacht gegen den Beschuldigten, was den Besitz kinderpornografischer Schriften angeht, als relativ vage darstellt.“
  5. LG Mühlhausen, Beschluss vom 03.03.2003 – 6 Qs 56/03:
    „Sind aufgrund eines Durchsuchungsbeschlusses Papiere sichergestellt worden, ist nach Widerspruch des Beschuldigten gegen die Sicherstellung eine zügige Durchsicht der Unterlagen vorzunehmen mit dem Ziel, in angemessener Zeit zu dem Ergebnis zu gelangen, was als beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Betroffenen herauszugeben werden soll. Bei einer Zeitdauer von 12 Monaten ist das gesetzlich verankerte Übermaßverbot verletzt mit der Folge, dass die Sicherstellung nicht aufrechterhalten werden darf und die Unterlagen an den Betroffenen herauszugeben sind.“
  6. LG Bonn, Beschluss vom 30.09.2024 – 777 Js 219/23 SE:
    „Die Aufbereitung und Auswertung der beschlagnahmten Geräte ist über ein Jahr nach der Sicherstellung derselben noch nicht abgeschlossen, ohne dass dies auf dem besonderen Umfang der hier zu überprüfenden Datenmenge beruhen würde. Vielmehr hat sich die Auswertung aufgrund Überlastung der auswertenden Behörde, technischer Probleme und weiterer höher priorisierter Auswertungen erheblich verzögert. Eine derart verzögerte Bearbeitung durch unzureichend ausgestattete staatliche Organe vermag einen deutlich über sechs Monate hinwegdauernden Eingriff in Eigentumsrechte des Betroffenen nicht zu rechtfertigen.“

Fazit

Die Entwicklung der Rechtsprechung zeigt eine deutliche Verschiebung der Maßstäbe. Während vor rund 20 Jahren bereits Zeiträume von zwei oder drei Monaten als unverhältnismäßig lang angesehen wurden, wird in der heutigen Praxis vielfach erst eine Dauer von einem Jahr oder länger als kritisch bewertet.

Die Verteidigung sollte bewusst auf die älteren, strengeren Entscheidungen verweisen. Deren Argumentationsmuster – insbesondere die Unzulässigkeit staatlicher Organisationsdefizite als Rechtfertigung für Eingriffe – gelten fort. Eine weitere Aushöhlung der Maßstäbe muss im Interesse des effektiven Grundrechtsschutzes verhindert werden.


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 Diana Nadeborn Diana Nadeborn