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Aktuelles Aktuelles Medizinstrafrecht   

Grenzen der streng formalen Betrachtungsweise

   
16. Dezember 2022

Die Übertragung der streng formalen Betrachtungsweise aus dem Sozialrecht auf den Abrechnungsbetrug führt nach ständiger strafgerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich zur Annahme eines Vermögensschadens bei Nichteinhaltung der sozialrechtlichen Vorgaben: Liegt ein Verstoß gegen sozialrechtliche Vorschriften vor und kommt diesen Vorschriften nicht nur eine reine Ordnungsfunktion zu, entfällt nach der sozialrechtlichen Bewertung der Vergütungsanspruch. Bereits das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 12.8.2021 (B 3 KR 8/20 R, „Hörakustiker“) die streng formale Betrachtungsweise aufgeweicht und festgestellt, dass der Vergütungsanspruch auch bei der Nichteinhaltung einer Vorschrift, der keine reine Ordnungsfunktion zukommt, bestehen bleiben kann.

Diesen Kurs setzt das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in seinem Urteil vom 18.1.2022 (L 16/4 KR 506/19) fort: Es stellt fest, dass die erbrachten Krankenhausleistungen von der klagenden Krankenkasse zu vergüten waren, obwohl falsche Daten an die Vergabestelle für Organtransplantation (Eurotransplant) übermittelt worden waren. Denn diese Falschangaben bezogen sich lediglich auf die Dringlichkeit, nicht aber auf die Erforderlichkeit der Transplantation, die im konkreten Fall medizinisch indiziert und nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt worden war. Obwohl gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen worden war, handele es sich bei den Vorgaben an die Meldung an Eurotransplant nicht um formale oder inhaltliche Voraussetzungen für die Entstehung eines Vergütungsanspruchs für die stationäre Krankenhausbehandlung. Auch schützen die Vorgaben für die Meldung nicht die Krankenkassen, sondern andere, zweifellos hohe Schutzgüter. Die Falschmeldungen durch den Wegfall des Vergütungsanspruchs gewissermaßen zu ahnden und damit einem Gerechtigkeitsempfinden Genüge zu tun, sei, so das Landessozialgericht, nicht Aufgabe der Krankenkassen.

Die Entscheidung zeigt erneut, dass auch Sozialgerichte – anders als manche Kostenträger – für die Beantwortung der Frage, ob ein Vergütungsanspruch besteht, eine differenzierte Betrachtung für notwendig erachten, gegen welche Bestimmungen verstoßen wurde. Nicht bei jedem Verstoß entfällt der Vergütungsanspruch. Diese begrüßenswerte Tendenz muss auf die Anwendung der streng formalen Betrachtungsweise im Rahmen des Abrechnungsbetruges übertragen werden. Darüber hinaus gibt sie Anlass, die streng formale Betrachtungsweise in diesem Kontext und die Ablehnung einer Kompensation durch eine nach den Regeln der ärztlichen Kunst erbrachte Behandlungsleistung, vollständig zu hinterfragen. Denn das Landessozialgericht hat in seiner Entscheidung gerade darauf abgestellt, dass die Behandlung indiziert und nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt worden war.

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